Seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 16. Februar 2012 – 6 AZR 553/10 steht fest, dass die Frage des Arbeitgebers nach einer Schwerbehinderung auf Seiten des Arbeitnehmers im bestehenden Arbeitsverhältnis jedenfalls sechs Monate nach Einstellung zulässig ist. Grund dafür ist unter anderem eine Berücksichtigung der Schwerbehinderung bei einer gegebenenfalls erforderlichen Sozialauswahl (wir berichteten).

Seitdem hat es sich in der Praxis etabliert, dass das gezielte Nachfragen nach einer Schwerbehinderung (oder Gleichstellung) im Bewerbungsverfahren bzw. in den ersten 6 Monaten (häufig Probezeit) der Beschäftigung unzulässig ist. Eine Verarbeitung entsprechender Informationen ist allenfalls auf freiwilliger Basis zulässig.

Fast genau 12 Jahre nach dem BAG Urteil könnte diese Praxis nun auf den Prüfstand gestellt werden. Ursächlich ist das Urteil des EuGH in der Rechtssache C-485/20 (HR Rail).

Worum geht es?

HR Rail ist die einzige Arbeitgeberin der Bediensteten der belgischen Eisenbahn. Sie stellte einen Facharbeiter für die Wartung und Instandhaltung der Schienenwege ein. Zu Beginn der Tätigkeit bestand eine Probezeit. In der Probezeit wurde bei dem Beschäftigten ein Herzproblem diagnostiziert, das Einsetzen eines Herzschrittmachers wurde erforderlich. Dieser reagierte sensibel auf elektromagnetische Felder, die u. a. in Gleisanlagen auftreten. Daher wurde eine Behinderung des Klägers und dessen Ungeeignetheit für die ursprüngliche Tätigkeit festgestellt. Er wurde daraufhin als Lagerist eingesetzt.

Noch in der Probezeit wurde er entlassen, da er die Aufgaben, für die er ursprünglich eingestellt wurde, nicht mehr erfüllen konnte und für Bedienstete, denen in der Probezeit eine Behinderung anerkannt wird, keine Verwendung an einem anderen Arbeitsplatz vorgesehen ist. Gegen diese Kündigung reichte der Beschäftigte Klage ein.

Vorlage beim EuGH

Das belgische Gericht ersuchte im Rahmen des Verfahrens den EuGH um Erläuterungen zur Auslegung, insbesondere von Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, und ganz konkret zum Begriff „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“.

Urteil des EuGHs

Der EuGH entschied, dass der Begriff „angemessene Vorkehrungen für Menschen mit Behinderung“ impliziert, „dass ein Arbeitnehmer – und zwar auch derjenige, der nach seiner Einstellung eine Probezeit absolviert –, der aufgrund seiner Behinderung für ungeeignet erklärt wurde, die wesentlichen Funktionen seiner bisherigen Stelle zu erfüllen, auf einer anderen Stelle einzusetzen ist, für die er die notwendige Kompetenz, Fähigkeit und Verfügbarkeit aufweist, sofern der Arbeitgeber durch diese Maßnahme nicht unverhältnismäßig belastet wird.“

Auswirkungen auf das Fragerechts des Arbeitgebers?

Das Urteil hat tatsächlich keine Auswirkung auf das Fragerecht des Arbeitgebers. Die Behinderung lag zum Zeitpunkt des Bewerbungsverfahrens noch nicht vor, sondern trat erst innerhalb der Probezeit auf. Die Voraussetzungen für die grundsätzliche Eignung hatte sich daher erst im Arbeitsverhältnis geändert.

Hätte der Beschäftigte, unterstellt, der Fall würde in Deutschland spielen, bereits zum Zeitpunkt der Bewerbung an Herzproblemen gelitten und einen Herzschrittmacher getragen, hätte er aufgrund seiner Mitwirkungspflicht auf diesen Umstand hinweisen müssen. Insofern darf der Arbeitgeber auch Gesundheitsdaten erfragen, wenn dies erforderlich ist, um zu beurteilen, ob der Bewerber in der Lage ist, die mit der Bewerbung angestrebte Tätigkeit tatsächlich erbringen zu können. Der Arbeitgeber darf entsprechend der BAG-Entscheidung vom 07.06.1984 (AZ: 2 AZR 270/83) auf Grundlage von Art 9 Abs. 2 Nr. 2 DSGVO, § 26 Abs. 3 BDSG fragen, ob

  • eine Erkrankung bzw. Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes vorliegt, durch die die Eignung für die vorgesehene Tätigkeit auf Dauer oder in periodisch wiederkehrenden Abständen eingeschränkt ist,
  • zum Zeitpunkt der Arbeitsaufnahme bzw. in absehbarer Zeit mit einer längeren Arbeitsunfähigkeit zu rechnen ist, die auf Krankheit, Operation oder Kur beruht,
  • eine ansteckende Krankheit vorliegt, die zwar die Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigt, jedoch Arbeitskollegen bzw. Dritte gefährdet.

Hätte der Bewerber hier unrichtige Angaben gemacht und aufgrund dessen die vorgesehene Tätigkeit nicht ausüben können, wäre dem Arbeitgeber die Anfechtung des Arbeitsverhältnisses wegen arglistiger Täuschung möglich gewesen.