Man stelle sich ein Land vor, das den bedingungslosen Anspruch an sich selbst hat – gemessen an seinen Werten – gerecht zu sein. In einem solchen Land sollen diejenigen, die sich immer gesellschafts- und rechtskonform verhalten bei Krediten, Kitaplätzen und Ausreisen aus dem Land bevorzugt werden. Diese Menschen sind die Guten in der Gesellschaft. Andere, die beispielsweise bei einer Prüfung geschummelt haben, raubkopierte Filme runtergeladen haben, beim Schwarzfahren erwischt wurden oder jegliche andere unerwünschte Handlung vornahmen, sollen hingegen für ihr Verhalten sanktioniert werden. Für sie sollen wesentliche Teile des alltäglichen Lebens nicht mehr möglich sein bis sie ihr Verhalten durch vom Staat erwünschte Taten verbessert haben. Ein solches Land gibt es schon. Auf den chinesischen Straßen ist man schon länger gewohnt, flächendeckend videoüberwacht zu werden und an jeder zweiten Straßenecke uniformierte Aufpasser das Geschehen beobachten zu sehen. Wer in China „verbotene Stadt“ oben im Browserfenster eingibt, um bei Google Informationen über diese Attraktion zu erhalten, der stellt fest, dass die Seite nicht aufgerufen werden kann. Das chinesische Internet ist in allen Sprachen der Welt zensiert und in der westlichen Welt weit verbreitete Dienste wie Google und Facebook sind nicht mit legalen Mitteln aufrufbar. Der chinesischen Regierung reicht das jedoch nicht. Man möchte in Zukunft sowohl online als auch offline, Daten über die Bürger zusammenführen, die dann durch eine Art Rating des Verhaltes der Bürger, eine Kategorisierung vornimmt. Bürger-Ratingsysteme, die derzeitig schon in einem recht großen Umfang getestet werden, umfassen Kategorien von A (sehr vertrauenswürdiger Bürger) bis D (äußerst nicht-vertrauenswürdiger Bürger). Hinter diesem sogenannten Sozial-Kreditsystem steckt das Sammeln und Zusammenführen von Daten in einem unvorstellbaren Ausmaß mit Hilfe eines ungemein datenhungrigen Algorithmus. Die aktuelle Shanghaier Version ist eine App mit dem Namen „Ehrliches Shanghai“. Sie scannt das Gesicht seines Nutzers und ruft die Daten des so identifizierten Bürgers ab. Laut einem Bericht in der Süddeutschen Zeitung, sollen im Schnitt 5198 Einzelangaben von 97 Ämtern und Behörden pro Nutzer in die Bewertung einfließen können. Wenngleich die App heutzutage noch freiwillig ist, so ist das dahinterstehende System ab 2020 nicht mehr optional. Bis dahin soll das „System der sozialen Vertrauenswürdigkeit“ für jeden Chinesen Realität und Alltag werden. Obwohl heutzutage das Datenschutzrecht in der europäischen Öffentlichkeit eher als ein Abwehrrecht gegenüber großen Technik-Konzernen wahrgenommen wird, so entstammt das deutsche Datenschutzrecht dem Schutz vor staatlicher Datenverarbeitung. Beginnt man mit datenschutzrechtlichem Blick, nach europäischer Art auf dieses chinesische System zu schauen, so ist man entsetz über die Datenverarbeitung und auch sogleich ratlos.
Warum ein Sozialkredit fundamental gegen europäische Datenschutzrechtsgrundsätze verstößt
Im deutschen und europäischen Datenschutz gibt es bestimmte Prinzipien, die – sprachbildlich ausgedrückt – über jedem datenschutzrechtlich relevanten Sachverhalt schweben. Die Datenschutzgrundsätze sind quasi Eckpfeiler der erlaubten, beziehungsweise verbotenen Datenverarbeitung. Im Folgenden wird dargestellt wieso ein chinesisches Sozialkreditsystem nach unseren gesetzlichen Regelungen in jeglicher Hinsicht datenschutzrechtswidrig ist, da es gegen diese Prinzipien verstößt.
Verbot der Datenverarbeitung mit Erlaubnisvorbehalt
Grundsätzlich ist sowohl die Erhebung, die Verarbeitung als auch die Speicherung von personenbezogenen Daten verboten. Ausnahmen gibt es, wenn entweder ein Gesetz die Datenverarbeitung legitimiert oder wenn die betroffene Person mit hinreichend Kenntnis über die Verarbeitung dazu eingewilligt hat. China würde die Datenverarbeitung wohl durch ein Gesetz legitimieren. In Europa würde dieses Gesetz jedoch entweder vor nationalen Gerichten als verfassungswidrig erklärt werden oder der Europäische Gerichtshof würde es aufgrund von Verstößen gegen die europäischen Verträge (EUV/AEUV/Grundrechtcharta) als nichtig erklären.
Das Prinzip der Zweckbindung
Zweckbindung bedeutet, dass für jede Datenverarbeitung neben einer Erlaubnisnorm oder Einwilligung auch ein bestimmter Zweck für die jeweilige Datenverarbeitung vorliegen muss. Die Verarbeitung zu einem anderen, als dem ursprünglich gedachten Zweck, stellt einen Verstoß gegen das Prinzip dar. So dürfen beispielsweise einmal zu Versandzwecken erhobene Daten von einem Onlineshop nicht auch für den Newsletter Versand genutzt werden, wenn nicht gesondert dafür eine Einwilligung eingeholt wurde. Mit Blick auf das chinesische Sozialkreditsystem wird deutlich, dass quasi eine dauerhafte Zweckentfremdung stattfindet, wenn Daten von allen Stellen zusammengeführt werden.
Die Datensparsamkeit
Das Prinzip der Datensparsamkeit – oder auch der Datenvermeidung – besagt, dass so wenig wie möglich personenbezogene Daten verarbeitet werden sollen, wie sie von Nöten sind um den einen bestimmten Zweck zu erreichen. Ebenfalls von diesem Prinzip berührt ist das Löschen von Daten, wenn sie nicht mehr zur Erfüllung des Zwecks notwendig sind. Weiterhin sind personenbezogene Daten, wenn möglich zu pseudonymisieren oder zu anonymisieren. Der hinter dem Sozialkreditsystem stehende Algorithmus ist wahrscheinlich eine Art Big Data Lösung. Er lebt davon, dass so viele Daten wie möglich über jeden Bürger vorliegen und diese auch erhalten bleiben. Als datensparsam erscheint diese Art der Datenverwertung in jedem Fall nicht.
Verhältnismäßigkeit
Datenschutzrecht schützt das Persönlichkeitsrecht eines jeden Einzelnen. Darum soll die Datenverarbeitung stets so gestaltet sein, dass ein so geringer Eingriff in die fundamentalen Rechte einer Person vorgenommen wird wie möglich. Einfach formuliert könnte man im Grunde genommen sagen, dass nicht mit Kanonen auf Spatzen geschossen werden soll. Juristisch bedeutet das, dass zwischen den Interessen des Unternehmens und den Rechten der Person abgewogen werden muss. Würde man davon ausgehen, dass es ein legitimes Ziel eines Staates sei, seine Bürger zu gesellschaftskonformem Handeln zu bringen, dann müsste dies so geschehen, dass so wenig wie möglich in das Persönlichkeitsrecht eingegriffen werden würde. Wenngleich es weiterhin illegal wäre, so könnte man die Zuverlässigkeit seiner Bürger bestimmt auch mit weniger Daten und in einem geringeren Ausmaß messen und der Verhältnismäßigkeit ein wenig näherkommen. Von einem verhältnismäßigen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Bürger ist bei dem Sozialkreditsystem nicht auszugehen.
Fazit
Alles in Allem erscheint die Idee von einem Sozialkreditsystem, was seine Bürger kategorisiert, äußerst bizarr. Ein Sozialkreditsystem wäre umso mächtiger, desto mehr es in die soziale Welt seiner Nutzer eintauchen könnte. In Europa ist diese Art der Datenverarbeitung aus den vorherig dargestellten Gründen undenkbar. Dennoch schärft alleine die Vorstellung in einem solchen Land leben zu müssen das Bewusstsein darüber, wie wichtig es ist, dass ein Datenschutzrechtsrahmen existiert, der jeden Menschen vor einer ungerechtfertigter Datenverarbeitung schützt.