Entscheidungen des BVerfG und ihre Hintergründe

Am 6.11.2019 hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zwei Entscheidungen „Recht auf Vergessen I“ und – II verkündet, am 27.11. die Entscheidungen und Pressemitteilungen dazu veröffentlicht. Seitdem wissen wir, dass das BVerfG auch weiterhin Verfassungsbeschwerden prüfen wird, die den Datenschutz betreffen. Auch wenn das Rechtsgebiet vollständig „europäisiert“ ist und dadurch die Grundrechte des Grundgesetzes (GG) oft kein Prüfungsmaßstab mehr für Entscheidungen von deutschen Gerichten oder Aufsichtsbehörden zum Datenschutz sind. Stattdessen gilt die Europäische Grundrechtecharta (EuGrCh). Der EuGH reguliert als höchste Instanz die Standards des Datenschutzes in der EU. Direkt darunter kontrolliert ab sofort auch das BVerfG die Einhaltung der Europäischen Grundrechte beim Datenschutz.

Im Internet kann man Anmerkungen finden, wonach der „Ausweitung des Datenschutzes“ durch diese Urteile jetzt Grenzen gesetzt worden wären. Stimmt das?

Zu den Entscheidungen

Die Entscheidungen behandeln Fragen zur Abgrenzung zwischen Äußerungsrecht und Datenschutzrecht, und zur Abwägung zwischen Pressefreiheit bzw. unternehmerischer Freiheit und dem „Recht auf Vergessen“, nach deutschem und europäischem Verfassungsrecht.

Sie betreffen einen Sachverhalt, der vielen Lesern bekannt vorkommen wird:

Eine Zeitung oder ein Sender haben ein Internet-Archiv mit zahllosen eigenen Beiträgen, die meisten viele Jahre alt. In einem mindestens fünf Jahre alten Beitrag wird eine Person namentlich genannt. Die Person hinterließ laut Beitrag einen irgendwie unerfreulichen Eindruck. Damals, als der Beitrag erschien, konnte die Person sich nicht gegen die Berichterstattung wehren, sie war zulässig. Mittlerweile sind viele Jahre vergangen. Die betroffene Person möchte nicht, dass weiterhin die „ollen Kamellen“ von damals bei Google oben in den Suchergebnissen erscheinen, wenn jemand ihren Namen dort eingibt.

Wir kennen den Sachverhalts-Typ mindestens seit 2014 mit der ergangenen Entscheidung des Gerichtshofs der EU (EuGH) „Google Spain“. Seitdem ist Einiges geklärt:

  • Suchmaschinen führen eine eigenständige Verarbeitung personenbezogener Daten durch. Google kann von Betroffenen direkt in Anspruch genommen werden, bestimmte Fundstellen nicht anzuzeigen. Google darf die Betroffenen nicht statt dessen darauf verweisen, dass sie beim betreffenden Medienarchiv die Löschung oder Bearbeitung der sie betreffenden Texte, oder eine andere Konfiguration verlangen könnten.
  • Die Zulässigkeit der ursprünglichen Veröffentlichung im Medienarchiv und die Zulässigkeit des Suchmaschinen-Eintrags sind rechtlich voneinander unabhängig zu betrachten. Der Suchmaschinen-Eintrag kann unzulässig sein, auch wenn die Veröffentlichung im Medienarchiv rechtmäßig bleibt.
  • Bei Suchmaschinen und bei Medienarchiven kann es einen Anspruch der Betroffenen geben, nicht unbegrenzt namentlich auffindbar zu sein, wenn mittlerweile rechtlich ihr Interesse überwiegt, „in Ruhe gelassen zu werden“. Bei „Recht auf Vergessen I“ war ein Löschungs-Anspruch gegen ein Medienarchiv denkbar, bei „Google Spain“ gegen eine Suchmaschine.
  • Dazu muss die betroffene Person das Online-Archiv bzw. die Suchmaschine zuerst auf die Fundstellen hinweisen, durch die sie sich verletzt sieht. Es besteht keine Pflicht der Online-Archive oder Suchmaschinen, von sich aus regelmäßig Daten zu anonymisieren oder zu filtern, deren Veröffentlichung einmal zulässig war.

Diese Grundsätze wurden jetzt durch das BVerfG bestätigt.

Welches Verfassungsrecht?

Im Mittelpunkt der aktuellen Entscheidungen stand die Frage, ob deutsches oder europäisches Verfassungsrecht anzuwenden ist: Sollte das europäische Verfassungsrecht zur Anwendung kommen, ist zu klären, ob das BVerfG überhaupt für den Rechtsstreit zuständig sein kann.

Die Antworten des BVerfG:

  • Wenn bei einschlägigen EU-Regelungen ein Umsetzungs-Spielraum für den nationalen Gesetzgeber besteht, (z.B. wegen des Medienprivilegs, Art. 85 DSGVO), dann gilt die Vermutung, dass die Grundrechte des GG der Prüfungsmaßstab für mögliche Verletzungen von Grundrechten sind. Zumal sie regelmäßig mindestens denselben Schutz bieten, wie die europäischen Grundrechte nach der EuGrCh oder der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
  • Eine Prüfung allein am Maßstab der deutschen Grundrechte ist in diesen Bereichen ausreichend, außer wenn konkrete und hinreichende Anhaltspunkte vorliegen, dass dadurch das grundrechtliche Schutzniveau des Unionsrechts nicht gewahrt sein könnte.
  • Wenn das EU-Recht dagegen keinen Umsetzungsspielraum für den deutschen Gesetzgeber enthält, dann ist nur die EuGrCh der verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstab, nicht das GG.
  • Bei solchen Sachverhalten prüft das BVerfG weiterhin Verfassungsbeschwerden, nämlich darauf, ob jemand durch deutsche Behörden oder Gerichte in seinen Grundrechten aus der EuGrCh verletzt wurde. Für Bürger und Unternehmen gibt es ja kein eigenes Rechtsmittel direkt zum EuGH. Diese Schutzlücke füllt das BVerfG.

In großen Teilen des Datenschutzrechts gibt es keine Öffnungsklauseln für nationale Regelungen. In diesen Bereichen wird vom BVerfG zukünftig allein geprüft, ob ein Träger Öffentlicher Gewalt gegen die EuGrCh verstoßen hat. Dies war z.B. bei „Recht auf Vergessen II“ der Fall. Denn eine Suchmaschine wird nicht durch die Pressefreiheit geschützt, so dass Art. 85 DSGVO hier nicht einschlägig war, es bestand kein nationaler Umsetzungs-Spielraum. Für den Anspruch gegen Google (Recht auf Vergessen II) war also die EuGrCh zu prüfen, für den Anspruch gegen das Medienarchiv (Recht auf Vergessen I) das GG.

Bisher sieht es nicht so aus, als ob der EuGH bei seinen Entscheidungen zum Schutz personenbezogener Daten nach Art. 8 EuGrCh wesentlich anders entschieden hätte, als das BVerfG zum „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“. Deshalb müssen diese Entscheidungen nicht bedeuten, dass der verfassungsrechtliche Datenschutz jetzt reduziert wird.

Datenschutzrecht und Äußerungsrecht

Im Rahmen des Verfahrens um das Medienarchiv (Recht auf Vergessen I) ging es weiter darum, ob das „Recht auf informationelle Selbstbestimmung“ hier überhaupt einschlägig ist. Ein anderes Feld des Verfassungsrechts ist der Schutz vor der Verarbeitung personenbezogener Berichte und Informationen in Massenmedien aufgrund des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Dort geht es vor allem um Meinungs- und Pressefreiheit und ihre Grenzen. Im Ergebnis sah das BVerfG das Allgemeine Persönlichkeitsrecht durch die Archiv-Veröffentlichung verletzt.

Ob diese Abgrenzung des Geltungsbereiches des „Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“ ein Schritt zur Einschränkung der Rechtsprechung zu diesem Thema ist, bleibt abzuwarten. Zwingend ist das nicht.