Vor Beginn des Schullebens werden Schulkinder amtsärztlich untersucht, um die Schultauglichkeit festzustellen. In Thüringen scheinen die dort getroffenen Feststellungen nicht ausreichend zu sein. Nach einem Bericht von MDR THÜRINGEN wird seit 2003, also seit 16 Jahren ein „Fragebogen zur Kinder- und jugendärztlichen Einschulungsuntersuchung“ an alle Eltern von Vorschülern im Rahmen der schulärztlichen Untersuchung geschickt. Der Fragebogen fragt u.a. ab:

  • Mit wie vielen Monaten das Kind tags und nachts sauber war?
  • Wie die Geburt verlief (Steißlage, Zange, Saugglocke, Kaiserschnitt)?
  • Gesundheitsstörungen in der Familie des Kindes (Eltern/ Geschwister/ Großeltern).

Auf Anfrage des MDR THÜRINGEN erklärte das Gesundheitsministerium:

„…dass damit frühzeitig körperliche und psychologische Entwicklungsauffälligkeiten festgestellt werden könnten.“

Rechtslage

Bei einem Großteil der Fragen werden besondere Kategorien personenbezogener Daten verarbeitet. Deren Verarbeitung ist nach Art.9 Abs.1 DSGVO untersagt, sofern sich aus Absatz 2 nicht eine Ausnahme vom Verarbeitungsverbot ergibt. Hier kommen lediglich drei Varianten in Betracht:

  • Die Verarbeitung ist auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich (Art. 9 Abs. 2 lit. g DSGVO)
  • Die Verarbeitung ist für Zwecke der Gesundheitsvorsorge oder der Arbeitsmedizin, für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit des Beschäftigten, für die medizinische Diagnostik, die Versorgung oder Behandlung im Gesundheits- oder Sozialbereich oder für die Verwaltung von Systemen und Diensten im Gesundheits- oder Sozialbereich auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats oder aufgrund eines Vertrags mit einem Angehörigen eines Gesundheitsberufs und vorbehaltlich der in Absatz 3 genannten Bedingungen und Garantien erforderlich (Art. 9 Abs. 2 lit. h DSGVO).
  • Die betroffene Person hat in die Verarbeitung der genannten personenbezogenen Daten für einen oder mehrere festgelegte Zwecke ausdrücklich eingewilligt (Art. 9 Abs. 2 lit. a DSGVO).

Unabhängig davon, ob die weiteren Voraussetzungen vorliegen muss entweder ein erhebliches öffentliches Interesse vorliegen (Art. 9 Abs. 2 lit. g DSGVO) oder die Verarbeitung ist für Zwecke der Gesundheitsvorsorge (Art. 9 Abs. 2 lit. h DSGVO). Hier bestehen erhebliche Zweifel, sodass letztlich nur eine Einwilligung der Betroffene (Art. 9 Abs. 2 lit. h DSGVO) greifen wird, die von sämtlichen Personen, über die Daten erhoben werden, erklärt werden muss.

Nur Thüringen?

Schaut man über die Landesgrenzen hinaus, wird schnell klar, dass es sich hierbei nicht um einen Einzelfall handelt (vgl. unseren Artikel aus 2017). So wurde in einem Anamnesefragebogen für Krippen- und Kindergartenkinder einer sächsischen Gemeinde abgefragt:

  • War die Geburt spontan und regelrecht; vorzeitige Wehentätigkeit, Infusion, verzögerte Wehentätigkeit, Infusion;
  • Kaiserschnitt; Saugglocke; Zangengeburt
  • Lage des Kindes bei Geburt: regelrechte Schädellage; Steißlage; Anderes/ Weiteres
  • Wurde Ihr Kind während der Geburt im Geburtskanal gedreht?
  • War der Vater während der Geburt anwesend?
  • Gab es über den 4. Monat hinaus Blutungen?
  • Litt die Mutter an Erkrankungen (chronische Erkrankungen, psychische Erkrankungen, Erkältungen, Schwangerschaftsdiabetes, Schwangerschaftsvergiftung)?
  • Bestanden Suchterkrankungen/Suchtverhalten der Mutter während der Schwangerschaft (Alkohol, Nikotin, Medikamente, Drogen)? Wenn ja, was und in welcher Menge?
  • War die Mutter während der Schwangerschaft berufstätig? Wenn ja, was und bis zu welcher Woche?
  • Kindesvater: Bestanden Suchterkrankungen/Suchtverhalten (Alkohol, Nikotin, Medikamente, Drogen) während der Schwangerschaft der Mutter? Wenn ja, was und in welcher Menge?
  • Vor der Geburt Ihres Kindes: Gab es vorher bereits eine Schwangerschaft? Wenn ja, wurde diese ausgetragen? Verlief diese normal?
  • Gab es eine Eileiterschwangerschaft, Totgeburt oder Abtreibung? Wenn ja, was und wie alt war die Mutter?

Der Sächsische Datenschutzbeauftragte stellt im 18. Tätigkeitsbericht (2017), Seite 117ff klar:

„Die im streitgegenständlichen Anamnesebogen abgefragten Angaben gingen weit über das erforderliche und damit zulässige Maß hinaus und waren keinesfalls zur Durchführung des Betreuungsvertrages erforderlich. Mithin war auch ihre Speicherung unzulässig.“

Gegenüber MDR Thüringen gab der Thüringer Landesdatenschutzbeauftragte an, „gemeinsam mit der Gesundheitsstaatssekretärin […] die Fragebögen [zu] ändern. Dabei sollen auch Mediziner hinzugezogen werden.“

Anmerkung des Autors

Neben der Vielzahl an unangemessenen und häufig zweifelsfrei unzulässigen Fragen stößt ein weiterer Punkt auf. Wie konnte dieser Fragebogen 16 Jahre eingesetzt werden, ohne dass dieses hinterfragt wurde? Dem Bericht des MRD THÜRIGEN zufolge wurde allein für das Schuljahr 2018/19 knapp 18.500 Fragebögen verschickt. Rechnet man dies auf 16 Jahre hoch müssten, bei gleichbleibender Einschulungszahl, ca. 300.000 ausgefüllte Bögen existieren. Es erscheint unwahrscheinlich, dass es hier keine Rückfragen, Beschwerden oder Eingaben gab. Es bleibt mit Spannung abzuwarten, wie sich die weitere Sachverhaltsaufklärung darstellt und in welchem Umfang der Fragebogen überarbeitet wird.