Das Bundesverfassungsgericht hat sich in drei heute veröffentlichten Beschlüssen vom 18.12.2018 (1 BvR 142/15, 1 BvR 2795/09, 1 BvR 3187/10) kritisch zur Zulässigkeit von automatisierter Kennzeichenerfassung geäußert (wir haben uns ebenfalls bereits mit dem Thema befasst). Die Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen hatten jeweils in ihren Landesgesetzen Regelungen aufgenommen, die entsprechende Überwachungsmaßnahmen zur Gefahrenabwehr bzw. zur Strafverfolgung vorsahen.
Neben Überlegungen zu den kompetenzrechtlichen Voraussetzungen enthält der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 142/15) auch eine Neujustierung der Reichweite des Schutzbereichs des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung.
Das Bundesverfassungsgericht ändert nämlich mit seinem Beschluss zum Bayerischen Polizeiaufgabengesetz seine Rechtsprechung und bejaht einen Grundrechtseingriff bereits dann, wenn die Überwachungsmaßnahme nicht zu einem positiven Treffer in einer Fahndungsdatei führt:
„… Die Einbeziehung der Daten auch von Personen, deren Abgleich letztlich zu Nichttreffern führt, erfolgt nicht ungezielt und allein technikbedingt, sondern ist notwendiger und gewollter Teil der Kontrolle und gibt ihr als Fahndungsmaßnahme erst ihren Sinn. Dem steht nicht entgegen, dass den Betroffenen im Nichttrefferfall weder Unannehmlichkeiten noch Konsequenzen erwachsen. Denn das ändert nichts daran, dass die Betroffenen überprüft werden, ob sie behördlich gesucht werden und ihre ungehinderte Weiterfahrt unter den Vorbehalt gestellt wird, dass Erkenntnisse gegen sie nicht vorliegen. Eine solche Maßnahme ist nicht erst hinsichtlich ihrer Folgen, sondern als solche freiheitsbeeinträchtigend. Zur Freiheitlichkeit des Gemeinwesens gehört es, dass sich die Bürgerinnen und Bürger grundsätzlich fortbewegen können, ohne dabei beliebig staatlich registriert zu werden, hinsichtlich ihrer Rechtschaffenheit Rechenschaft ablegen zu müssen und dem Gefühl eines ständigen Überwachtwerdens ausgesetzt zu sein.“
Neben der formellen Verfassungswidrigkeit der Landesgesetze wegen fehlender Gesetzgebungskompetenz, die in Sachen Strafverfolgung beim Bund liegt, stellte das Gericht auch die materielle Verfassungswidrigkeit der Regelungen fest, soweit die Gesetze der Gefahrenabwehr dienen sollten. Hier zog das Gericht eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Begründung heran, da die Gesetze nicht ausschließlich dem Schutz von Rechtsgütern von erheblichem Gewicht dienten. Darüber hinaus bemängelt das Gericht, dass Menschen sich beliebig, ohne einen rechtfertigenden Anlass, dem Druck von Überwachungsmaßnahmen aussetzen müssten. Es sei für die Errichtung von solchen Überwachungsmaßnahmen stets eine konkrete Gefahr erforderlich, die als Tatbestandsmerkmal in den angegriffenen Landesgesetzen jedoch fehlte.
Dies sind erfreulich deutliche Worte des obersten deutschen Gerichts, nachdem selbst das Bundesverwaltungsgericht den Schutzbereich des Grundrechts auf informelle Selbstbestimmung nicht richtig ausgelegt hat. Damit erteilt das Bundesverfassungsgericht erneut allen anlasslosen Überwachungsmaßnahmen, die zur Verbesserung des allgemeinen Sicherheitsgefühls in der Bevölkerung immer wieder rezidivierend gefordert werden, eine klare Absage.
Diese Beschlüsse dürften damit auch Auswirkungen auf die Diskussion über Dieselfahrverbotszonen haben, denn diese sollen ebenfalls mittels automatisierter Kennzeichenerfassung überprüft und durchgesetzt werden – zumindest nach Meinung des Bundesverkehrsministers. Die Verfassungsrichter könnten dem Gesetzgeber just dafür eine Hintertür geöffnet haben. Im Beschlusstext heißt es im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit, dass „die Kennzeichenkontrolle etwa auch zur Verhinderung hinreichend gewichtiger Delikte zulassen [ist], für deren Bekämpfung eine Kennzeichenkontrolle von besonderer Bedeutung ist, was gewichtige Ordnungswidrigkeiten einschließen kann.“
Das kann man als Wink des Bundesverfassungsgerichts mit dem Auspufftopf verstehen, denn der Gesetzgeber hat ja bei Umwelt- und Verkehrsdelikten einen weiten Ermessenspielraum was die Schaffung von „gewichtigen“ Ordnungswidrigkeitstatbeständen angeht.
7. Februar 2019 @ 9:43
Hallo Christian,
vielen Dank für Deinen Hinweis! Ich stimme Dir absolut zu, dass eine geringfügige Ordnungswidrigkeit zur Kennzeichenkontrolle eigentlich ausscheiden sollte. Die Frage ist aber, ob man den zitierten Beschluss und die darin enthaltene Wertung auf die Kennzeichenkontrolle eins zu eins übertragen kann, da die dort angegriffene Wohnungsdurchsuchung sicherlich einen tieferen Grundrechtseingriff darstellt als eine Kennzeichenkontrolle.
Obwohl das Gericht den Schutzbereich des Grundrechts ausgeweitet hat, hat es mMn. (leider) nicht die hohen Hürden gegen Kennzeichenkontrollen errichtet, die wünschenswert gewesen wären. Die Formulierung im Urteil „der Schutz von gewichten Rechtsgütern wie (die) besonders schutzwürdigen Rechtsgüter wie Leib, Leben und Freiheit der Person und der Bestand und die Sicherheit des Bundes und der Länder“ (Rn. 99) hört sich noch sehr bürgerrechtsfreundlich an. Aber schon im nächsten Satz kommt die Einschränkung, dass auch Sachwerte als Schutzgüter in Betracht kommen – sie dürfen nur nicht komplett „unerheblich“ sein. Und als ob diese Hürde noch nicht niedrig genug ist, stellt das Gericht klar, dass selbst (gewichtige) Ordnungswidrigkeiten ausreichen, wenn die Kennzeichenkontrolle für deren Bekämpfung von besonderer Bedeutung ist. Dabei kann man „gewichtig“ mMn. auch hier mit „nicht unerheblich“ übersetzen. Und das muss keinen Widerspruch zu der von Dir zitierten Entscheidung darstellen. Denn ob das verfolgte Delikt gewichtig genug ist, hängt ja auch von der Intensität des Grundrechtseingriffs ab und diese ist bei einer Wohnungsdurchsuchung wesentlich höher als bei einer Kennzeichenerfassung. Insofern könnte eine Bepunktung der Ordnungswidrigkeit durchaus als ausreichend erachtet werden, da bei der Durchsetzung von Dieselfahrverbotszonen darüber hinaus das geforderte Kriterium des Sachzusammenhangs der Kennzeichenkontrolle zum Delikt („besondere Bedeutung bei der Bekämpfung des Delikts“) gegeben ist.
Der politische Beobachter darf sich aber auch fragen, warum das Verfassungsgericht in seiner PM bei der Darstellung der Entscheidungsgründe ausgerechnet den Hinweis auf die (Verkehrs-) Ordnungswidrigkeiten als Rechtfertigungsgrund des Grundrechtseingriffs ausgespart hat. Dies ist jetzt natürlich nicht mehr Teil einer juristischen Diskussion sondern reine Spekulation…
6. Februar 2019 @ 22:50
Das halte ich für schwierig: Geht man einmal davon aus, dass ein Verstoß gegen ein Dieselfahrverbot ähnlich bestraft wird, wie Fahren in einer Umweltzone ohne Plakette (80 Euro, kein Punkt), kommt man zur BVerfG-Entscheidung 2 BvR 2748/14, die 30 km/h zu schnell (80 Euro, ein Punkt) gerade nicht als gewichtig einordnet.