In einer nicht mehr ganz ofenfrischen, aber dafür trotzdem sehr spannenden Entscheidung hat sich das Bundesarbeitsgericht (BAG) per Urteil vom 28. März 2019 (Az. 8 AZR 421/17) zur Zulässigkeit der offenen Videoüberwachung am Arbeitsplatz geäußert.
Ausgangspunkt ist ein Tabak- und Lottoladen, der sich im Rahmen des erörterten Verfahrens dadurch auszeichnet, dass mehrere Kameras – teils im (vorderen) Verkaufsraum, teils im (hinteren) Mitarbeiterbereich – das Verhalten der Kunden und Bediensteten dokumentieren. Anlass, dies gerichtlich zu thematisieren, bot die gegenüber einer Mitarbeiterin ausgesprochene Kündigung wegen des Fehlens größerer Mengen an Waren (vor allem Tabakwaren und Rubellose) mit Verweis auf eben die ausgewertete Videoüberwachung.
Prävention contra Überwachungsdruck
Inhaltlich stark an eine ähnlich gelagerte Entscheidung des 2. Senats aus dem Vorjahr (Urt. v. 23.8.2018 – 2 AZR 133/18) angelehnt, kommen die Richter von wortreichen (und wichtigen) Abgrenzungen des Prozessrechts über die Erörterung der allgemeinen Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen einer Videoüberwachung relativ schnell zur Überzeugung, dass eine solche auch aus Gründen der Prävention (also zur Vorbeugung von Taten) zulässig sein kann – wobei sie in weiten Teilen komplette Absätze wortgleich aus der vorigen Entscheidung übernehmen (merke: Auch Bundesrichter haben ein Faible für ‚Copy & Paste‘); wo und warum dieser Umstand noch relevant werden wird, dazu später mehr.
„Einfach so?!“
Wer sich in Seminaren oder auf Konferenzen für Datenschutz herumtreibt, bekommt immer wieder vorgekaut, dass eine Überwachungsmaßnahme per Video ein sehr sensibler Eingriff ins Persönlichkeitsrecht sei und deshalb einen konkreten Zweck aufgrund objektiver Anhaltspunkte erfordere, um überhaupt eine Kamera montieren zu dürfen. Daher stellt sich angesichts der obigen Ausführungen schon die Frage, ob hier nicht über das Ziel hinausgeschossen wird.
Maßgeblich stellt das BAG auf die Frage ab, ob mit der eingerichteten Überwachungsanlage ein solcher Druck erzeugt werde, nach der die Mitarbeiterinnen in ihrer Gestaltungsfreiheit „wesentlich gehemmt“ würden. Bereits diese Formulierung mag erahnen lassen, in welche Richtung man hier tendiert. In jedem Fall sei die Überwachung nicht nur im Rahmen der Aufklärung von möglichen Straftaten, sondern auch abseits – zur Aufdeckung von sonstigen arbeitsrechtlichen Verfehlungen – ein taugliches Mittel; in dem Fall gemäß § 32 Abs. 1 S. 1 BDSG-alt, welcher der Entscheidung zugrunde lag und (im Wesentlichen) inhaltsgleich mit dem aktuellen § 26 Abs. 1 S. 1 BDSG ist.
Kehrtwende in der Rechtsprechung
In der Praxis wird die hiesige Entscheidung umstritten diskutiert. So weist der Richter am Arbeitsgericht Köln Dr. Jens Tiedemann (siehe ZD 2019, 226, 230) darauf hin, dass unter den hier zugrunde gelegten Annahmen das viel beachtete sog. Keylogger-Urteil vom 27.7.2017 (Az. 2 AZR 681/16) wohl anders ausgefallen wäre. Insofern kann man getrost von einer Kehrtwende in der Rechtsprechung ausgehen, die mit dieser Entscheidung – oder besser: mit der vorigen aus dem Jahr 2018 – eingeleitet worden ist.
Jedoch werden kaum „harte“ Kriterien zur Legitimierung der Überwachung gefordert. Vielmehr reiche es aus, wenn der Arbeitgeber aufgezeichnete Videosequenzen generell zum Belegen möglicher Kündigungsgründe zu verwenden gedenkt. Und dann sei es auch in Ordnung, wenn diese Aufzeichnungen bereits Wochen oder gar Monate älteren Datums seien. Dazu sei er auch nicht gehalten, die gespeicherten Videos ständig auf etwaige Vorfälle hin zu untersuchen, da auf diese Weise nur zusätzliches Misstrauen gegenüber den Beschäftigten geschürt würde.
Mehr als nur Schönheitsfehler
Nun muss man das nicht zwingend gut finden, und darf auch durchaus anderer Ansicht sein. Gleichwohl hat natürlich die Entscheidung eines Bundesgerichts ein gewisses Gewicht in der praktischen Rechtsanwendung, an der man nicht ohne Weiteres vorbeikommt.
Es gibt aber gute Gründe, den Bestand dieses Urteils anzuzweifeln. Denn die Richter übergehen – in für Sie konsequenter Fortführung der Vorjahres-Entscheidung des 2. Senats (siehe oben) – einige Gesichtspunkte, die eine abweichende rechtliche Bewertung eröffnen:
- Das Gericht nimmt keine detaillierte Prüfung der Erforderlichkeit vor, sondern hakt diesen Punkt kurz und bündig ab mit dem Hinweis, dass es sich „oft um die einzigen, regelmäßig aber um die „zuverlässigsten“ Erkenntnis- und Beweismittel“ handele – und springt damit quasi direkt von der Eignung zur Angemessenheit.
- Das Urteil argumentiert konsequent gegen die Grundsätze sowohl der Datenminimierung und Speicherbegrenzung (Art. 5 Abs. 1 DSGVO) als auch gegen den Grundsatz datenschutzfreundlicher Voreinstellungen (Art. 25 Abs. 2 DSGVO).
- Die Richter gehen wenig bis gar nicht darauf ein, dass es vorliegend um zwei separate Zwecke (Verhinderung von Pflichtverletzungen zum einen sowie Aufklärung und Verfolgung derselben zum anderen) geht, die aber anhand einer einheitlichen Vorschrift bewertet werden. Die Regelung zur Zweckänderung in Art. 6 Abs. 4 DSGVO findet indes keinerlei Erwähnung.
Zur Erläuterung: Zwar verweist das BAG zu Recht darauf, dass insbesondere die Frage nach einem Überwachungsdruck für die Angestellten mangels Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten nicht abschließend bewertet werden kann; daher geht die Sache zurück zur Vorinstanz. Gleiches kann im Grunde nur gelten bei der Frage, ob mildere Mittel in Form von z.B. erhöhten Stichprobenkontrollen des Warenbestands oder auch der Einsatz eines Ladendetektivs denkbar wären; auch das wiederum ist stark von den konkreten Gegebenheiten vor Ort abhängig. Beides wird nicht mal ansatzweise thematisiert.
Das Übergehen der (oben unter Ziffer 2) genannten Verarbeitungsgrundsätze kann wenig im Sinne des Datenschutzes sein; sind doch diese beiden Vorschriften sogar bußgeldbewährt – wahlweise auf Stufe 1 (mit bis zu 10 Mio. Euro oder maximal 2 % vom Jahresumsatz) oder Stufe 2 (mit bis zu 20 Mio. Euro oder maximal 4 % vom Jahresumsatz) – im Gegensatz zu einer ähnlich gelagerten früheren Regelung in § 3a BDSG-alt, die aber lediglich als eine Art „Programmsatz“ verstanden wurde. Eine Vorschrift, die sogar Bußgelder in erheblichem Umfang nach sich ziehen kann, sollte in jedem Fall einer detaillierten Betrachtung unterzogen werden.
Das Gericht verweist lediglich darauf, dass es jedenfalls ausreiche, im Rahmen der gängigen Verjährungsfristen auf das Videomaterial zugreifen zu wollen. Das ist angesichts der gesteigerten Anforderungen vor dem Hintergrund der DSGVO eine bemerkenswerte Schlussforderung.
Weiterer Gegenwind
Die Aufsichtsbehörden vertreten bekanntermaßen eine wesentlich strengere Auffassung zur Einrichtung einer Videoüberwachung im Allgemeinen und zur Speicherdauer im Speziellen (wir berichteten schon zur Vorjahres-Entscheidung). So hat der LfDI Baden-Württemberg bereits deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er die Grundannahme des Urteils für fehlgeleitet hält:
„Wollte man es zulassen, dass ein Arbeitgeber eine Videoüberwachung anlasslos (und dauerhaft, so bereits kritisch und zutreffend die Vorinstanz) und damit präventiv beginnt und sodann nach aufkommendem Verdacht einer Straftat ohne jede Zäsur diese Aufzeichnungen zu repressiven Zwecken nutzt, würde man dem Arbeitgeber nicht nur eine Zweckänderung der Überwachung ohne jede datenschutzrechtliche Rechtfertigung zugestehen, sondern zugleich die vom Gesetzgeber mit Bedacht hoch angesetzten Hürden des § 32 Abs. 1 Satz 2 BDSG a.F. bzw. § 26 Abs. 1 Satz 2 BDSG n.F. schlicht unterlaufen. Das kann nicht richtig sein.“
Schließlich wäre es denkbar, dass im Rahmen einer behördlichen Auseinandersetzung auf dem Verwaltungsrechtsweg eine konkurrierende Entscheidung gefällt wird.
Wunschliste an den Gesetzgeber
Nun ist Weihnachten zwar gerade vorbei, aber vielleicht bietet gerade dieser Umstand die passende Gelegenheit, im Vorgriff aufs nächste Mal einen Wunsch an den Gesetzgeber zu formulieren. Denn immerhin eröffnet Art. 88 DSGVO die Möglichkeit, auf nationaler Ebene ergänzende Regelungen zum Beschäftigtendatenschutz zu erlassen. Diese Option ist mit dem aktuellen § 26 BDSG (der mit dem § 32 BDSG-alt im Wesentlichen identisch ist) nur allzu oberflächlich umgesetzt.
Aber es gab eine Zeit, zu welcher der Bundestag die Verabschiedung von stark ausdifferenzierten Vorschriften für diesen Bereich im Sinn und auf dem Tisch hatte. Hier hätte das Datenschutzrecht um zahlreiche moderne Aspekte ergänzt werden können, so z.B. zu biometrischer Zutrittskontrolle, GPS-Ortung bei Firmenfahrzeugen oder eben auch Zulässigkeit von Videoüberwachung.
Obgleich mittlerweile um ein knappes Jahrzehnt gealtert, hat diese Gesetzesinitiative bis heute wenig von ihrer (potentiellen) Relevanz für die Beratungspraxis verloren. Es wäre für alle Beteiligten mit erheblichem Gewinn an Rechtssicherheit verbunden (gewesen), hätte man diese speziellen Regelungen zu Rate ziehen können. Leider ist der Entwurf im Zuge der Erarbeitung der DSGVO, die sich kurz darauf anschloss, wieder in der Versenkung verschwunden.
Zusammenfassung
Videoüberwachung am Arbeitsplatz wird nach wie vor umstritten diskutiert: Grund dafür ist vor allem die recht „dünn“ formulierte Generalklausel in § 26 Abs 1. BDSG im Vergleich zu den umfangreichen Anforderungen des Grundgerüsts der DSGVO.
Mit der jüngsten Entscheidung deutet das Bundesarbeitsgericht (BAG) eine relativ arbeitgeberfreundliche Handhabung an, die eine deutliche Lockerung der datenschutzrechtlichen Vorgaben zur Folge hätte. Dabei übergehen die Richter aber einige Grundpfeiler: Bedeutsame Aspekte wie Erforderlichkeit, Speicherbegrenzung und Zweckbindung werden trotz umfangreichen textlichen Formulierungen inhaltlich nur spärlich abgehandelt.
Einen Gewinn an Rechtssicherheit bedeutet das für Unternehmen zunächst nur bedingt, da viele der entscheidungserheblichen Umstände – vor allem zu den Fragen der Räumlichkeiten und Rückzugsmöglichkeiten für die Beschäftigten – im konkreten Fall weiter aufgeklärt werden müssen. Dennoch bleibt ein Ausrufezeichen stehen, denn laut BAG sei es (zumindest arbeitsrechtlich) nicht nötig, die Speicherdauer im Rahmen einer Videoüberwachung bei Beschäftigten im Vorhinein konkret näher zu begrenzen.
Als höchstrichterliche Entscheidung wird dieses Urteil in jedem Fall seine Beachtung finden. Reibereien dürfte es aber auch in Zukunft geben: So hat u.a. der LfDI Baden-Württemberg bereits anklingen lassen, dass im Zuge von behördlichen Maßnahmen gänzlich andere Ergebnisse denkbar sind. Nicht zuletzt hat es auch der Gesetzgeber verpasst, durch den im Jahre 2010 diskutierten, aber kurz darauf wieder eingeschlafenen Entwurf zu einem ausdifferenzierten Beschäftigten-Datenschutz, Klarheit in der Praxis zu schaffen. So ist auf lange Sicht gut denkbar, dass es zu diesem Thema konkurrierende (abweichende) Entscheidungen anderer Bundesgerichte geben wird.
AR
13. Januar 2020 @ 17:02
Kurz und knapp: wieder einmal hat der Autor einen auch für Laien gut lesbaren und verständlichen Beitrag verfasst. Dafür vielen Dank!
Anonymous
13. Januar 2020 @ 11:58
„Maßgeblich stellt das BAG auf die Frage ab, ob mit der eingerichteten Überwachungsanlage ein solcher Druck erzeugt werde, nach der die Mitarbeiterinnen in ihrer Gestaltungsfreiheit „wesentlich gehemmt“ würden.“
„Zwar verweist das BAG zu Recht darauf, dass insbesondere die Frage nach einem Überwachungsdruck für die Angestellten mangels Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten nicht abschließend bewertet werden kann; daher geht die Sache zurück zur Vorinstanz.“
Ich bin verwirrt. Das BAG hat also entschieden, dass die dauerhafte offene (!) Videoüberwachung aus Präventionsgründen grundsätzlich zulässig sein kann (!), ohne eine konkrete Entscheidung in diesem Fall zu treffen? Der Ball liegt demnach jetzt wieder beim LAG – hätte die Klägerin jetzt nochmal die Möglichkeit, vor die nächsthöhere Instanz zu ziehen, im Fall einer vermuteten Grundrechtsverletzung wäre das ja eher das BVerfG?
Stefan R. Seiter
21. Januar 2020 @ 17:37
Grundlegend zweimal „Ja“: Zum einen, weil das BAG tatsächlich in der von Ihnen beschriebenen Weise entschieden hat, und zum zweiten – Ja – die Klägerin hätte prinzipiell die Möglichkeit, gegen das in der „nächsten Runde“ vor dem LAG verhandelte Urteil Rechtsmittel einzulegen, möglicherweise (in letzter Konsequenz) bis zum BVerfG, wobei das noch ein längerer Weg wäre.
Zur Ergänzung:
In meinen Augen überraschend ist vor allem die Passage in den Randziffern 37 / 38 des BAG-Urteils; hier positioniert sich der Senat relativ deutlich auf Seiten des Arbeitgebers, wonach (kurz formuliert) eine Überwachung gewissermaßen schon in Ordnung gehe, solange der einzelne Beschäftigte nur darüber informiert ist.
Die für den hiesigen Fall zuständige Aufsichtsbehörde, der LDI NRW, sieht das in einer nur geringfügig älteren Übersicht zum Thema Videoüberwachung in Anlehnung an frühere BAG-Rechtsprechung gänzlich anders und geht davon aus, dass bereits „die bloße Möglichkeit der jederzeitigen Videoüberwachung“ (siehe im Link zuvor auf Seite 80) einen solchen Überwachungsdruck erzeuge.
Bemerkenswert ist ferner, dass die bisher in diesem Zusammenhang diskutierte „Daumenregel“, wonach von einer dauerhaften Überwachung auszugehen sei, wenn jemand mehr als 15 Minuten im Bild zu sehen ist (z.B. auch wir berichteten dazu) keinerlei Erwähnung findet.
CS
13. Januar 2020 @ 11:57
Hierzu auch SächsDSB, TB 2017/18 (S. 310f.): „Die Entscheidung ist bei nicht wenigen unabhängigen Datenschutzbehörden auf Widerspruch gestoßen. Auch meine Behörde verlangt trotz nicht bestehender konkreter Fristen eine adäquate und kurze Speicherdauer. In ähnlich gelagerten Fällen wird regelmäßig eine wenige Tage dauernde Speicherdauer als ausreichend angesehen. Die Speicherdauer von Videodaten kann nach Überzeugung meiner Dienststelle auch nicht in Abhängigkeit von parallel bestehenden andauernden Ansprüchen und Rechten entgegen bestehenden Grundsätzen für die Verarbeitung personenbezogener Daten ausgedehnt werden, ohne dass dies im Einzelfall erforderlich wäre, Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe c DSGVO. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts ist in Bezug auf den Streitfall bisher solitär. Meine Behörde betont, dass sie dem Urteil, abgesehen von der Tatsache, dass es sich um eine Einzelfallentscheidung handelt und sich künftig die Zulässigkeit der Verarbeitung an der DSGVO zu bemessen hat, keine Rechtfertigung für Verantwortliche zuerkennt, längere Speicherfristen zu begründen. Meine Dienststelle wird ihre datenschutzrechtliche Spruchpraxis in gleichgelagerten Fällen, was die Dauer der Verarbeitung der personenbezogenen Daten anbelangt, fortsetzen und gegebenenfalls mit Anordnungen durchsetzen. Meine Behörde ist nicht an gerichtliche Entscheidungen mit datenschutzrechtlichem Bezug, in denen sie nicht selbst Partei gewesen ist, gebunden.“