Vor wenigen Tagen, am 27.10.2015, hat das EU-Parlament die sog. Verordnung über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet sowie über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen beschlossen. „Super“ denkt man auf den ersten Blick, denn Netzneutralität, d.h. die Gleichbehandlung sämtlicher über das Internet übertragenen Daten und der diskriminierungsfreie Zugang bei der Nutzung von Datennetzen, ist ein schützenswertes Gut. Denn wo käme man hin, wenn etwa Telekommunikationsunternehmen, nachdem wir deren teure 50 mb/s-Leitung und das unbegrenzte „Nutzererlebnis“ gebucht haben, auch noch beeinflussen könnten, ob der von uns ausgewählte Internetdienst tatsächlich schnell und ohne Ruckeln läuft oder etwa in einen „Datenstau“ gerät.?!

Dank Netzneutralität soll dies jedoch verhindert, und jetzt sogar durch eine EU-Verordnung gestützt werden. Gleiches Internet für alle – Oder etwa doch nicht? Hält die „Netzneutralitätsverordnung“ überhaupt das, was sie zu sein scheint?

Ausnahmetatbestände prägen die Verordnung

Zwar findet sich sowohl zu Beginn der Erwägungsgründe als auch in Art. 3 Abs. 3 S. 1 der Verordnung selbst ein klares Bekenntnis zum Grundsatz der „Technologieneutralität“ und der Gewährleistung, dass das Internet „offen“, „frei“ und so genutzt werden kann, dass der „gesamte Datenverkehr ohne Diskriminierung, Beschränkung oder Störung, ungeachtet des Senders, des Empfängers, des Inhalts, der Anwendung, des Dienstes oder des Endgeräts, gleich behandelt“ wird.

Dieser Grundsatz wird jedoch in den weiteren Erwägungsgründen und schließlich durch Art. 3 Abs. 3 S. 2 sowie die Unterziffern a) – c) der Verordnung eingeschränkt.

So sollen nämlich „Verkehrsmanagementmaßnahmen“ möglich sein, wenn sie erforderlich sind, um etwa Gesetzgebungsakten oder gerichtlichen Verfügungen zu entsprechen, die Integrität und Sicherheit des Netzes zu wahren oder um mögliche Netzüberlastungen zu verhindern.

Verkehrsmanagementmaßnahmen sollen mithin möglich sein, soweit sie „zu einer effizienten Nutzung der Netzressourcen und zur Optimierung der Gesamtübermittlungsqualität entsprechend den objektiv unterschiedlichen Anforderungen an die technische Qualität der Dienste bei speziellen Verkehrskategorien und somit den übermittelten Inhalten, Anwendungen und Diensten beitragen.“

Unklare Begrifflichkeiten

Klar wird zunächst nur, dass der Grundsatz der Netzneutralität nicht schrankenlos gelten soll. Doch greift dies in unzulässiger Weise in schützenswerte Rechtsgüter ein oder sind solche Ausnahmen nicht sogar notwendig, um neue technische Innovationen überhaupt erst zu ermöglichen?

Um dies bewerten zu können, bedarf es zunächst der Konkretisierung einiger Begrifflichkeiten und Szenarien. Was nämlich genau sind „Verkehrsmanagementmaßnahmen“? Wann zeichnet sich ab, wann ein Netz überlastet ist? Wann bedarf es einer Optimierung von Netzressourcen? Bei welchen „Spezialdiensten“ sollen die Ausnahmen gelten? Konkret heißt das etwa: Welche Dienste, die „objektiv höhere technische Anforderungen an die technische Qualität“ haben, werden bevorzugt?

Schnell wird klar, dass die Verordnung und insbesondere deren Ausnahmetatbestände an Kontur und Klarheit vermissen lassen. Die Folge solch offener interpretationsbedürftiger Formulierungen ist nicht zuletzt die Unsicherheit der Betroffenen, in diesem Fall der Internetnutzer und vor allem der Anbieter solcher Dienste mit wenig Marktmacht.

Start-Up-Unternehmer kritisieren unlängst, dass die Entwicklung innovativer Dienste behindert werde, wenn Internetprovider nunmehr zwischen Datenarten unterscheiden und „Überholspuren“ für bestimmte Datenarten schaffen dürften.

Bisher sind solche Überholspuren, z.B. für zahlungskräftige Großunternehmen, jedoch keinesfalls als grundsätzlich zulässig erachtet worden. Bisher werden als vom Ausnahmetatbestand umfasst etwa „Spezialdienste“ wie Internet-TV oder Telemedizin diskutiert. In der Verordnung heißt es jedoch nur, dass eine „…Differenzierung nur auf der Grundlage objektiv verschiedener Anforderungen an die technische Qualität der Dienste (beispielsweise in Bezug auf Verzögerung, Verzögerungsschwankung, Paketverlust und Bandbreite) bei bestimmten Verkehrskategorien, nicht aber auf Grundlage kommerzieller Erwägungen zulässig…“ sein soll. Abzuwarten bleibt also, wie dies in Zukunft ausgelegt wird.

Hilfreich kann bei der Auslegung des zulässigen Umfangs von Verkehrsmanagementmaßnahmen etwa ein Blick auf die nationale Gesetzgebung sein. Ein 2. Verordnungsentwurf des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie vom 31.07.2013 zur Gewährleistung der Netzneutralität, der bisher jedoch nicht umgesetzt wurde, legt mithin fest, dass der Grundsatz der Netzneutralität durchbrochen werden kann, wenn die zu privilegierende Anwendung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, der Wahrung nationaler Sicherheits- und Verteidigungsinteressen, der Gesundheit oder dem Schutz der Verbraucher dient oder wenn die Maßnahme darauf abzielt, den Zugang behinderter Nutzer, älterer Menschen oder von Personen mit besonderen sozialen Bedürfnissen zu ermöglichen oder zu erleichtern.

Gefahr für den Datenschutz und die Grundrechte? – Fazit

Eine Privilegierung zahlungskräftiger Streamingdienste nur aus dem Grund, einen störungsfreien Ablauf zu gewährleisten, ist mit dem Gebot der Netzneutralität unvereinbar. Nicht nur die Persönlichkeitsrechte der Nutzer sowie der eingerichtete und ausgeübte Gewerbebetrieb kleinerer Marktteilnehmer mit ähnlichen Angeboten wären unverhältnismäßig betroffen. Auch die Meinungs- und Informationsfreiheit der Internetteilnehmer wäre über Gebühr beschränkt, da die Informationsbeschaffung über das Internet keineswegs mehr „frei“ wäre.

Auf der anderen Seite erscheint es aber durchaus geboten, für fest definierte Bereiche privilegierte Voraussetzungen zu schaffen, um deren Reibungslosigkeit zu gewährleisten. Diese Ausnahmen müssen jedoch in ihrem Umfang klar definiert und auf solche Bereiche begrenzt werden, die ausschließlich dem Allgemeinwohl dienen (Gesundheit, Schutz der öffentlichen Sicherheit). Der reibungslose Ablauf einer Operation unter Verwendung von Telemedizin-Anwendungen dient dem Allgemeinwohl dabei offensichtlich wesentlich mehr als die Möglichkeit des Internetnutzers, „ruckelfrei“ die Lieblingsserie zu streamen. Für Ersteres sollte eine privilegierte Datenübertragung daher nach diesseitiger Ansicht möglich sein, für Zweiteres nicht.